Zahl­rei­che Kran­bahn­an­la­gen in der Bun­des­re­pu­blik sind in die Jah­re gekom­men. Zugleich gel­ten sie als Lebens­nerv vie­ler indus­tri­el­ler Betrie­be. Vor die­sem Hin­ter­grund spricht Kran­bahn-Exper­te Prof. Dr.-Ing. Chris­toph See­ßel­berg von der Hoch­schu­le Mün­chen über heu­ti­ge Sicher­heits­stan­dards im Hin­blick auf Ermü­dung, klu­ge Kon­zep­te für den Umgang mit Bestands­kran­bah­nen und stra­te­gi­sche Ent­schei­dun­gen, vor die die Betrei­ber gestellt werden.

Guten Tag, Herr See­ßel­berg. Kran­bahn­trä­ger sind ein­fa­che sta­ti­sche Sys­te­me. Trotz­dem gel­ten sie als beson­de­re Trag­wer­ke des Stahl­baus. Wor­an liegt das?
See­ßel­berg: Obwohl Kran­bahn­trä­ger eigent­lich nur ein gera­des Stück Stahl sind, ver­die­nen sie aus fünf Grün­den beson­de­re Beach­tung. Weil sich der Kran über den Trä­ger hin­weg­be­wegt, sind die Las­ten ers­tens dyna­misch und wir­ken stän­dig an einer ande­ren Stel­le. Das führt zum Pro­blem der stei­fen­lo­sen Last­ein­lei­tung, da jede Stel­le des Trä­gers eine poten­zi­el­le Last­ein­lei­tungs­stel­le ist. Bedingt dadurch haben wir es drit­tens mit äußerst kom­ple­xen Sta­bi­li­täts­fäl­len zu tun. Vier­tens spielt die Gebrauchs­taug­lich­keit eine unheim­lich wich­ti­ge Rol­le. Bei etwa der Hälf­te aller neu­ge­bau­ten Kran­bahn­trä­ger wird der Quer­schnitt durch die Durch­bie­gungs­be­gren­zung fest­ge­legt. Und zu guter Letzt muss bei einem Kran­bahn­trä­ger ein beson­de­res Augen­merk auf den Aspekt der Ermü­dung gelegt werden.

Mit die­sen Beson­der­hei­ten gehen bei der Pla­nung, der Kon­struk­ti­on und der Instand­hal­tung von Kran­bahn­trä­gern auch Her­aus­for­de­run­gen ein­her. Wel­che Her­aus­for­de­run­gen prä­gen ange­sichts aktu­el­ler Trends und Ent­wick­lun­gen gegen­wär­tig Ihre Arbeit?
See­ßel­berg: Neben der Mit­wir­kung an der Erar­bei­tung der Nach­fol­ge­nor­men im Bereich der Kran­bahn-Euro­codes beschäf­tigt mich der­zeit vor allem die in die Jah­re gekom­me­ne Indus­trie­infra­struk­tur in Deutsch­land. Dazu gehö­ren auch Kran­bahn­trä­ger, von denen sehr vie­le zwi­schen den 50er und 80er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts erbaut wur­den. Die ange­peil­te Lebens­dau­er eines Kran­bahn­trä­gers von 25 Jah­ren ist also vie­ler­orts über­schrit­ten. Wir müs­sen uns folg­lich klu­ge Kon­zep­te für den rich­ti­gen Umgang mit Bestands­kran­bah­nen über­le­gen. Das The­ma „Bau­en im Bestand“ spielt dabei eine über­ge­ord­ne­te Rolle.

„Bau­en im Bestand“ ist ein gutes Stich­wort. Die Fähig­keit, aus bestehen­der Bau­sub­stanz neue Qua­li­tät zu schaf­fen, ist nach­hal­tig sowie res­sour­cen­ef­fi­zi­ent und kann dar­um als all­ge­mei­ner Zukunfts­trend in der Bau­bran­che aus­ge­macht wer­den. Wel­ches Ver­ständ­nis von „Bau­en im Bestand“ liegt dem Umgang mit Kran­bahn­trä­gern zugrunde?
See­ßel­berg: Ich spre­che auch dann, wenn die Kran­bahn­trä­ger kom­plett aus­ge­tauscht wer­den, von „Bau­en im Bestand“, weil ja die Hal­len­kon­struk­ti­on oft erhal­ten blei­ben soll. Dabei gleicht das Aus­wech­seln eines Kran­bahn­trä­gers im lau­fen­den Pro­duk­ti­ons­be­trieb oft einer Ope­ra­ti­on am offe­nen Her­zen und ist wesent­lich kom­ple­xer, als eine Kran­hal­le „auf der grü­nen Wie­se“ kom­plett neu zu errich­ten. Die Ent­schei­dung zwi­schen Aus­tausch oder Wei­ter­nut­zung eines Kran­bahn­trä­gers ist stra­te­gi­scher Natur.

Wel­che Aspek­te beein­flus­sen die­se stra­te­gi­sche Entscheidung?
See­ßel­berg: Kran­bahn­trä­ger sind sehr häu­fig der Lebens­nerv von Betrie­ben wie Hüt­ten­wer­ken oder Gie­ße­rei­en. Kommt es in Fol­ge von Schä­den zu Still­stän­den bei Kran­an­la­gen, kann das in den Betrie­ben zu wirt­schaft­li­chen Ver­lus­ten in Mil­lio­nen­hö­he füh­ren. Die Betrei­ber müs­sen also bei ihrer Ent­schei­dung mit Weit­sicht und Sorg­falt zwi­schen zwei Optio­nen abwä­gen. Ers­tens: Soll ein Kran­bahn­trä­ger vor­sorg­lich aus­ge­tauscht wer­den, weil er in die Jah­re gekom­men ist, obwohl er nach der­zei­ti­gem Stand noch funk­tio­niert. Oder zwei­tens: Soll eine Bestands­kon­struk­ti­on wei­ter­hin genutzt wer­den, obwohl mit zuneh­men­der Nut­zungs­zeit das Risi­ko steigt, dass es zu Ermü­dungs­schä­den kommt, die plötz­lich auf­tre­ten und dann uner­war­te­te Betriebs­still­stän­de erzwin­gen kön­nen. Für das Tref­fen die­ser stra­te­gi­schen Ent­schei­dun­gen muss mög­lichst prä­zi­se pro­gnos­ti­ziert wer­den kön­nen, wie lan­ge ein Kran­bahn­trä­ger noch genutzt wer­den kann und wie wahr­schein­lich es ist, dass es zu Aus­fall­schä­den kommt.

Bei die­ser Ein­schät­zung ist das Alter von Kran­bahn­trä­ger ein aus­schlag­ge­ben­des Kri­te­ri­um. Wie ist es um die Stand­si­cher­heit von Bestands­kran­bah­nen bestellt, die vor Ein­füh­rung der heu­te gül­ti­gen Euro­codes geplant und gebaut wurden?
See­ßel­berg: Im Grun­de haben wir seit den 30er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts drei Pha­sen in der Kran­bahn­nor­mung erlebt. In der ers­ten Pha­se von 1936 bis 1980 fand die DIN 120 Anwen­dung, die heu­te als unsi­che­re Alt­norm gilt. Weil die dama­li­gen Annah­men über die Mate­ri­al­er­mü­dung und die Grö­ße der hori­zon­ta­len Kräf­te aus Kran­be­trieb nicht­zu­tref­fend waren, kann man heu­te nicht mehr ohne Wei­te­res davon aus­ge­hen, dass vor 1980 nach DIN 120 bemes­se­ne Anla­gen eine aus­rei­chend hohe Stand­si­cher­heit auf­wei­sen. Und davon könn­ten schät­zungs­wei­se 30% der exis­tie­ren­den Kran­an­la­gen betrof­fen sein. In der zwei­ten Pha­se von 1981 bis 2012 war DIN 4132 die rele­van­te Norm. Der Stand der Tech­nik, der DIN 4132 zu Grun­de lag, ent­spricht im Wesent­li­chen dem, was wir auch heu­te noch als rich­tig anse­hen. Kran­an­la­gen, die nach DIN 4132 bemes­sen wur­den, gel­ten also grund­sätz­lich auch heu­te noch als stand­si­cher. In der drit­ten Pha­se befin­den wir uns seit 2012 mit der Ein­füh­rung der Eurocodes.

Bei etwa 30% der Kran­an­la­gen, die vor 1980 gebaut wur­den, ist es mög­li­cher­wei­se unklar, ob sie die heu­ti­gen Stand­si­cher­heits­stan­dards erfül­len. Das ist eine gan­ze Men­ge. Wel­che Pro­ble­me kön­nen denn kon­kret bei alten Kran­bah­nen auftreten?
See­ßel­berg: Zum einen beschäf­ti­gen uns die Pro­ble­me im Grenz­zu­stand der Trag­fä­hig­keit. Es geht dar­um, die Kran­bahn­trä­ger für die auf­tre­ten­den Las­ten aus Kran­be­trieb sicher zu machen. Manch­mal betrei­ben Fir­men neue oder zusätz­li­che Kra­ne mit höhe­ren Hub­las­ten auf alten Kran­bahn­trä­gern. Das kann zu einer Über­las­tung der alten Kran­bah­nen füh­ren. Mit intel­li­gen­ten Kon­zep­ten kön­nen Kran­bahn­trä­ger so ver­stärkt und Kran­brü­cken so ver­än­dert wer­den, dass die Bean­spru­chun­gen infol­ge des Kran­be­triebs gerin­ger wer­den. Und wo Ver­stär­kungs­maß­nah­men nicht mög­lich sind, lässt sich die Steue­rung der Kran­an­la­ge even­tu­ell so anpas­sen, dass die Kran­las­ten aus­rei­chend redu­ziert wer­den – um den Preis einer etwas gerin­ge­ren Umschlags­leis­tung. Dann kön­nen in man­chen Fäl­len auch Kran­brü­cken mit etwas höhe­ren Hub­las­ten auf den alten Kran­bah­nen betrie­ben werden.

Die Ober­flä­che der FRI­LO-Lösung Kran­bahn­trä­ger S9+, mit der sich der Neu­weis beim Neu­bau eines Kran­bahn­trä­gers führen lässt.

Und zum anderen?
See­ßel­berg: Zum ande­ren ist der Umgang mit der Ermü­dung kom­plex. Für Kran­bah­nen, die älter als 25 Jah­re sind, kann häu­fig kei­ne aus­rei­chen­de Ermü­dungs­si­cher­heit mehr nach­ge­wie­sen wer­den. Zwar mag eine Kran­bahn­an­la­ge äußer­lich noch voll­kom­men intakt erschei­nen, aber die Bean­spruch­bar­keit der Kon­struk­ti­on hat im Lau­fe der Zeit doch abge­nom­men. Die Her­aus­for­de­rung besteht dar­in, auch fach­frem­den Ent­schei­dern in den Betrie­ben klar­zu­ma­chen, dass Kran­bah­nen, die äußer­lich noch scha­dens­frei erschei­nen, auf­grund der ermü­dungs­mä­ßi­gen Vor­schä­di­gun­gen trotz­dem am Ende ihres Lebens­zy­klus ange­kom­men sein kön­nen. Aber auch für eine Wei­ter­nut­zung trotz nicht mehr nach­weis­ba­rer Ermü­dungs­si­cher­heit gibt es Stra­te­gien wie eng­ma­schi­ge­re Inspek­tio­nen, um Schä­den früh­zei­tig zu ent­de­cken, die­se zu behe­ben und so zumin­dest plötz­li­che Aus­fäl­le zu vermeiden.

Wie lau­fen die­se Inspek­tio­nen in der Pra­xis ab?
See­ßel­berg: Lei­der gibt es in den Euro­codes kei­ne Vor­schrif­ten, die den Umgang mit alten Kran­an­la­gen regeln. An die­ser Stel­le kommt des­halb der gesun­de Inge­nieur­ver­stand zum Ein­satz. Poten­zi­ell kri­ti­sche Stel­len wer­den zunächst visu­ell auf Schä­den unter­sucht Las­sen sich schon mit blo­ßem Auge Schä­den erken­nen, wer­den prä­zi­se­re Hilfs­mit­tel wie z.B. das Farb­ein­dring­ver­fah­ren ange­wandt, um Ris­se fest­zu­stel­len. Alle Schä­den wer­den repa­riert, bevor die Kran­bahn wie­der in Betrieb gehen darf. Dann wird das siche­re Betriebs­in­ter­vall mit den Metho­den der Bruch­me­cha­nik bestimmt und so der nächs­te Inspek­ti­ons­zeit­punkt fest­ge­legt. Bis dahin kann die Kran­bahn zunächst wei­ter genutzt wer­den. Immer wie­der neu ist die Ent­schei­dung zu tref­fen, ob sich die Wei­ter­nut­zung trotz der erwart­ba­ren Scha­dens­re­pa­ra­tu­ren und den damit ein­her­ge­hen­den Still­stand­zei­ten lohnt oder ob es wirt­schaft­li­cher ist, statt­des­sen auf einen Aus­tausch der Kran­bah­nen zu set­zen. In die­ser Hin­sicht bedarf es viel Erfah­rung, um den Ent­schei­dern trag­fä­hi­ge Rat­schlä­ge geben zu können.

…und eine ent­spre­chen­de Soft­ware. Inwie­weit unter­stützt Sie der Ein­satz der FRILO Soft­ware in Ihrer Beratungstätigkeit?
See­ßel­berg: Seit 25 Jah­ren nut­ze ich sehr ger­ne das Pro­gramm BTII+ zur Berech­nung von Kran­bahn­trä­gern nach Bie­ge­tor­si­ons­theo­rie II. Ord­nung, des­sen Ergeb­nis­se haben für mich Refe­renz­cha­rak­ter. Im Gegen­satz zum Pro­gramm Kran­bahn­trä­ger S9+, mit dem sich der voll­um­fäng­li­che Nach­weis beim Neu­bau eines Kran­bahn­trä­gers füh­ren lässt, eig­net sich BTII+ auch für die Berech­nung von sehr kom­ple­xen Fäl­len. Für die Rest­nut­zungs­dau­er­ermitt­lung einer alten Kran­bahn grei­fe ich ger­ne auf BTII+ zurück, weil ich damit die ermü­dungs­re­le­van­ten Span­nun­gen in den Trä­gern berech­nen kann.

Die Infra­struk­tur in der Bun­des­re­pu­blik ist geal­tert. Dar­um wird die Nach­fra­ge nach Bauingenieur:innen auch in Zukunft hoch sein. Wie aber sehen Sie Unis und Hoch­schu­len im Hin­blick auf Nach­wuchs­för­de­rung aufgestellt?
See­ßel­berg: Wer in Deutsch­land ein Bau­in­ge­nieur­stu­di­um absol­viert, muss sich um sei­ne beruf­li­che Zukunft kei­ner­lei Sor­gen machen! Lei­der brin­gen die Bau­in­ge­nieur­fa­kul­tä­ten trotz rela­tiv hoher Stu­die­ren­den­zah­len weni­ger Absolvent:innen her­vor, als in der Pra­xis aktu­ell nach­ge­fragt wer­den. Die Coro­na-Pan­de­mie mit den zurück­lie­gen­den drei Online-Semes­tern war für unse­re Stu­die­ren­den eine extre­me Beein­träch­ti­gung, denn sie muss­ten nahe­zu kom­plett auf den per­sön­li­chen Kon­takt zu Kommiliton:innen und zu den Leh­ren­den ver­zich­ten.  Unse­re Bemü­hun­gen an der Hoch­schu­le Mün­chen, die Stu­die­ren­den trotz aller coro­nabe­ding­ten Hemm­nis­se in ihrem Stu­di­en­fort­schritt zu för­dern und gleich­zei­tig unse­re hohe Aus­bil­dungs­qua­li­tät zu gewähr­leis­ten, war in den letz­ten ein­ein­halb Jah­ren oft eine Grat­wan­de­rung. Dass wir erfolg­reich waren, kön­nen wir am posi­ti­ven Echo able­sen, dass wir immer wie­der von den Arbeit­ge­bern unse­rer Absolvent:innen bekom­men. Das Mar­ken­zei­chen der Hoch-schu­le Mün­chen, Leh­re und For­schung auf der Basis eines hohen Pra­xis­be­zugs mit­ein­an­der zu ver­knüp­fen, hat uns dabei sicher­lich sehr geholfen.

Zur Per­son:
Prof. Dr.-Ing. Chris­toph See­ßel­berg ist seit 2016 Pro­fes­sor für Bau­sta­tik, Stahl­bau und Kran­bau an der Hoch­schu­le Mün­chen. Sei­ne Exper­ti­se auf dem Gebiet des Kran­baus teilt der Autor in dem Buch ” Kran­bah­nen – pla­nen, kon­stru­ie­ren, berech­nen, fer­ti­gen, inspi­zie­ren, ertüch­ti­gen”, das bereits in der 6. Auf­la­ge erschie­nen ist.

 

Prof. Dr.-Ing. Chris­toph Seeįelberg (Copy­right: Seeįelberg)